Velowende für eine lebendige Stadt
Medienmitteilung vom 16. September 2024
Es gibt kaum eine Stadt, die nicht auf Veloförderung setzt. Doch den Versprechungen folgen vielfach wenig Taten. Statt eine Velostadt mit einem Fahrradanteil von über 30 Prozent anzustreben, geben Planung und Politik im Alltag immer noch dem Auto den Vorrang.
«Wenn von ‹Verkehr› die Rede ist, dann ist in der Regel der Autoverkehr gemeint», kritisiert Michael Liebi, Dozent für Raum- und Verkehrsplanung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule und Mobilitätsexperte bei der Fachstelle Fuss- und Veloverkehr der Stadt Bern. «Das schnelle Autofahren und das Parkieren gelten als Grundbedürfnis, während das Velo als Zusatz gesehen wird.» Das sei falsch: «Wer es mit Nachhaltigkeit ernst meint, muss Prioritäten setzen!». OST-Experte Liebi hat deshalb ein engagiertes Buch geschrieben – zusammen mit Patrick Rérat (er ist Professor für Mobilitätsgeografie an der Universität Lausanne), Ursula Wyss (sie vertrat die SP im Nationalrat, später prägte sie als Mitglied der Berner Stadtregierung die Veloplanung, heute führt sie ein Büro für strategische Stadtentwicklung) und Christine Lehmann (sie ist seit 2015 Stadträtin in Stuttgart für das Bündnis 90/Die Grünen und deren Radverkehrsexpertin). Das Buch mit dem Titel «Velowende» zeigt praxisnah, wie aus heutigen Autostädten wieder lebenswerte Städte für Menschen werden.
Die drei Velo-V
«In einer Stadt der kurzen Wege mit hoher Dichte und grosser Nutzungsmischung, in der alltägliche Angebote in Fuss- und Fahrraddistanz zu erreichen sind, ist das Velo das geeignete Verkehrsmittel», zitiert Ursula Wyss aus dem Buch. 80 Prozent der Verkehrsräume stünden heute aber ausschliesslich für den Autoverkehr zur Verfügung, während das Velo lediglich 3 Prozent beanspruche. «Die Hindernisse gegen eine Velowende sind in den autoorientierten Jahrzehnten auf Asphalt und Beton gebaut worden. Auch Gesetzgebungen und Normen verhindern, dass sie mit einfachen, rasch umsetzbaren Mitteln korrigiert werden können.» Dass dies möglich ist, zeigen die Niederlanden und Dänemark: «Amsterdam war auch nicht immer ‹Amsterdam›». Die Vorzeigestadt für den Veloverkehr war bis in die 1970er-Jahre ebenfalls vom Auto geprägt. Doch 1990 entschied sich die Bevölkerung für einen Masterplan zur Velowende. Dieser gesellschaftspolitische Prozess, «die Veränderung wollen», sei das erste V im Leitmotiv für eine nachhaltige Verkehrspolitik, erklärte Ursula Wyss bei einem Besuch am Velo-Fachkongress «Flink» Anfang Mai in St.Gallen. Um diesen Prozess anzustossen, empfiehlt die erfahrene Politikerin Visualisierungen, wie Städte mit wenig Autoverkehr aussehen könnten.
Sichere Strassen für 8 bis 80
Das zweite V ist dem Thema Vielfalt gewidmet: «Velokultur für alle», sagt Wyss. Dabei gehe es auch um Empowerment. 60 Prozent der Bevölkerung würde gerne Velo fahren, getrauen sich aber nicht, weil sie die Strasse als zu unsicher erlebten. Ursula Wyss empfiehlt deshalb den «Laura-Test»: «Würden Sie Ihr achtjähriges Kind hier fahren lassen?» Die Antwort könne nur dann Ja lauten, wenn die Routen nicht nur sicher, sondern auch Fehler verzeihend, intuitiv zu nutzen und vertrauenserweckend seien. Dies gelte auch für ältere Menschen – deshalb verwende man in der Verkehrsplanung auch die «8-80-Formel».
Mehr Platz fürs Velo macht den Verkehr flüssiger
Das dritte V schliesslich ist der Verantwortung gewidmet, der velofreundlichen Infrastruktur. OST-Experte Michael Liebi macht ein Beispiel: «Eine Untersuchung der Stadt Kopenhagen zeigt, dass mit der Verbreiterung eines Radweges zulasten einer Autospur eine insgesamt höhere Transportkapazität der Strecke erreicht werden konnte. Flächen zugunsten des Veloverkehrs erhöhen also nicht nur die Sicherheit und die Lebensqualität, sondern tragen auch zur Effizienzsteigerung bei.»
Für das Autorenteam ist deshalb klar: «Das Velo ist ein wichtiger Teil der Lösung unserer Verkehrsprobleme. Velostadt zu werden bedeutet vor allem eines: die Velofahrenden willkommen zu heissen. Dafür braucht es beides: grosse Gesten, aber auch kleine Details. Und Engagement auf allen Ebenen, von allen Akteuren, denn: Velostadt wird man, wenn man es will.»
Das Buch ist unter ISBN 978-3-907351-25-3 im Fachhandel erhältlich.Für eine lebendige Stadt: Velowende, Patrick Rérat / Ursula Wyss / Michael Liebi / Christine Lehmann, Verlag rüffer & rub, Zürich, 2024.
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OST: Forschung, Aus- und Weiterbildung
«Der zügige Ausbau der Velowegenetze stellt in der DACH-Region eine Voraussetzung zur Steigerung des Veloverkehrsanteils dar, der zur Erreichung der europäischen bzw. nationalen Klimaziele zwingend erforderlich ist», heisst es auf der Webseite der Forschungsgruppe «RadBest». Mit dem Volksentscheid im September 2018 hat die Schweiz zudem einen Grundstein für die Förderung des Veloverkehrs gelegt. Das IRAP Institut für Raumentwicklung der OST arbeitet in diesem länderübergreifenden Konsortium aus Deutschland, Österreich und der Schweiz an evidenzbasierten Handlungsempfehlungen für die Radverkehrsführung speziell in beengten Strassenverhältnissen. Den Schlussbericht haben die Forschenden um Carsten Hagedorn, Professor am Studiengang Stadt-, Verkehrs- und Raumplanung, im Sommer 2024 vorgestellt.
In einem weiteren Forschungsprojekt widmet sich das IRAP der «velofreundlichen Gemeinde». «Da geht es darum Gemeinden zu animieren, auf Grundlage ihrer vorliegenden Konzepte einen Aktionsplan «Velo» zu entwickeln und umzusetzen. Das Projekt wurde vom Bundesamt für Energie über die Koordinationsstelle nachhaltige Mobilität (KOMO) gefördert», sagt Hagedorn. Als Pilotgemeinden dienen Thalwil und Bülach. Im November 2024 wird dieses Projekt abgeschlossen.
Weiter betreibt das Team um Carsten Hagedorn im Auftrag des Kantons St.Gallen das Kompetenzzentrum Fuss- und Veloverkehr. «Der Fokus des Kompetenzzentrums liegt bei der Impulsberatung. Daneben bieten wir punktuelle Beratung im Planungsprozess, unterstützen bei Mitwirkungsverfahren und bringen Zweitmeinungen bei Fragen zum Fuss- und Veloverkehr ein», erklärt der OST-Professor.
Um dieses Wissen weitergeben zu können, entwickeln die Studierenden seit über zwölf Jahren mindestens ein Veloprojekt während dem Studium – in der Regel im 3. Semester ein Veloverkehrskonzept und häufig im 6. Semester ein Betriebs- und Gestaltungskonzept für eine Velohauptverbindung, erklärt Hagedorn. Zudem bietet die Weiterbildung der OST einen CAS-Lehrgang zum Thema Fuss- und Veloverkehr an.
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Ein Label für Swissness
Der Velofachhandel steht vor grossen Herausforderungen. Die Situation sei vergleichbar mit dem Möbelmarkt: Im Ausland wird billig produziert, in der Schweiz gelangen die Produkte mit grosser Marge direkt an die Endverbraucher. Stefan Nertinger, OST-Professor am ISM Institut für Strategie und Marketing, spricht von der «Amazonisierung und Zalandoisierung» im Velomarkt. «Schon heute werden 18 Prozent aller E-Bikes online bestellt».
In Bezug auf das Velo und den Velohandel haben Forschende der OST zusammen mit den Thurgauer Veloherstellern Tour de Suisse (Kreuzlingen) und Komenda (Sirnach) ein Label entwickelt, das den Velofahrenden in der Schweiz mehr Nutzen bringt und den Standort Schweiz stärkt. «Das Label ‹Schweizer Velo› soll deutlich machen, wie nachhaltig, sozial verantwortlich, serviceorientiert und qualitätsbetont in der Schweiz produziert wird», sagt Samuel Böhni vom IDEE Institut für Innovation, Design und Engineering. Das Label wurde vor zwei Jahren lanciert, unterstützt durch ein Innosuisse-Forschungsprojekt. Heute verspricht das Label «Schweizer Velo» neben Swissness, Nachhaltigkeit, Qualität und Langlebigkeit auch einen umfassenden Service – vom Diebstahlschutz bis zur Pannen-Assistance. www.schweizer-velo.ch
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