Dazwischen – Beatrice Dörig im Dialog mit Hans Hartung
Die Fachhochschule besitzt eine umfangreiche Sammlung von Grafiken, die aus einer grosszügigen Schenkung der Erker-Galerie stammt. Ein Teil der Sammlung ist in den Gängen der ersten vier Stockwerke das ganze Jahr über ausgestellt, der Rest lagert im Archiv. Die Sammlung ist zu den regulären Öffnungszeiten des Gebäudes öffentlich zugänglich. Es werden regelmässig Führungen angeboten, man kann aber auch gerne individuelle Termine vereinbaren.
Die aktuelle Ausstellung bildet den Auftakt zu einer Reihe, in der Kunstschaffende eingeladen sind, Bezüge zwischen ihren eigenen Arbeiten und den Werken der Erker-Sammlung herzustellen. Im 3. Obergeschoss sind Bleistift- und Tuschezeichnungen von Beatrice Dörig zu sehen. Das 1. Obergeschoss zeigt Originallithografien von Hans Hartung (1904–1989) aus dem Bestand der Erker-Sammlung neben Zeichnungen von Beatrice Dörig. Dort hängen auch Grafiken von Rebecca Salter (*1955), Christian Vetter (*1970), Franziska Furter (*1972) und Anne-Julie Raccoursier (*1974), die sich ebenfalls mit den Grafiken von Hans Hartung in Beziehung setzen lassen.

Wenn Beatrice Dörig über ihre Arbeiten spricht, wird deutlich, dass Reduktion ein zentrales Anliegen für sie ist. So hat sie beispielsweise die Farbe aufgegeben und zeichnet nur noch in Schwarzweiss. Auch die Beschränkung auf das Zeichnen von Linien folgt diesem Bedürfnis nach Reduktion.
Bei den 13 undatierten Tuschezeichnungen «Landschaften» hat die Künstlerin viele eng angrenzende Linien über das Blatt gezogen. Durch die Ausrichtung einer Linie an ihre unmittelbare Nachbarin, der sie sich anzugleichen sucht, entstehen oft parallele Verläufe, aber auch überraschende Strukturen, die an geologische Formationen, an Wellen oder an Wolken erinnern. Diese Strukturen haben sich zufällig ergeben, sie folgen keiner bestimmten Darstellungsabsicht. Es ist erstaunlich, wie ein so einfaches Verfahren individuelle und ästhetisch ansprechende Gebilde hervorbringen konnte.
Auch bei der Serie kleinformatiger Tuschezeichnungen mit dem Titel «Dazwischen» weist jedes Blatt ein charakteristisches Muster auf, das gelegentlich an Diagramme (z.B. an Wetterdiagramme) denken lässt. Beatrice Dörig hat für diese Blätter mit Tuschestiften gearbeitet, die sie zur Seite gelegt hatte, weil sie für die Arbeit mit grösseren Blättern nicht mehr genügend Tusche enthielten. In dieser Wiederverwertung zeigt sich eine betont nüchterne Kunstauffassung, die sich von der Idee verabschiedet hat, ein Kunstwerk drücke die subjektive Handschrift einer Künstlerpersönlichkeit aus. Auch diese Zurücknahme von Subjektivität lässt sich als eine Form von Reduktion begreifen.

Besagte Tuschezeichnungen befinden sich im 1. Obergeschoss, das schwerpunktmässig den Grafiken von Hans Hartung gewidmet ist. Hans Hartung (1904 in Leipzig geboren und 1989 in Antibes an der Côte d’Azur gestorben) ist einer der wichtigsten deutschen Vertreter der abstrakten Nachkriegskunst. Bereits 1932, ein Jahr bevor Hitler die Macht ergreift, verlässt er Deutschland. Eine Zeitlang lebt er in grosser finanzieller Not in Paris. 1939 tritt er in die Fremdenlegion ein, um gegen Nazideutschland zu kämpfen. 1944 wird er bei einem Einsatz als Sanitäter schwer verwundet und verliert sein rechtes Bein. Die langjährige Zusammenarbeit Hartungs mit der Erker-Galerie in St. Gallen begann im Jahr 1962 und kulminierte 1973, dem produktivsten Jahr des Künstlers als Druckgrafiker. Die Grafiken im 1. Stock stammen aus dieser Zeit. Sie sind alle in St. Gallen entstanden, in der Druckerei Stoob.
Nach einigen gemeinsamen Überlegungen, wie ein Dialog zwischen den Werken von Hartung und Beatrice Dörig am besten aussehen könnte, haben wir uns entschlossen, jeweils zwei kleinformatige Tuschezeichnungen als kontrapunktische Interventionen zwischen die grossen Lithografien des deutschen Künstlers zu setzen.
Anregende Dialoge leben von einer unkalkulierbaren Mischung aus Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit. Vergleicht man die Arbeiten Hartungs mit denen von Beatrice Dörig, so sticht ein Kontrast ins Auge. Die Linien der Künstlerin verraten eine bemerkenswert ruhige und stetige Führung des Stifts, die einem durchaus Bewunderung abnötigen kann. Ihr Strich ist ruhig, langsam, neutral, ohne erkennbaren Eigenwillen. Es geht ihr wie gesagt nicht um den Ausdruck von Subjektivität, sondern allem Anschein nach um eine möglichst sorgfältige Ausführung. Schrankenlose Geduld und Hingabe an dieses gleichförmige Tun werden umso spürbarer, je länger man ihre Arbeiten betrachtet.

Hans Hartungs Malbewegungen hingegen sind expressiv und schnell; es liegt oft etwas Ungestümes, ja Gewaltsames in seiner Art. Seine Striche und Flächen sind wuchtiger, sie folgen offenbar heftigen Bewegungsimpulsen. Der Künstler hat diese Züge oft hervorgehoben. In einem Interview bekennt er: «Ich kann nicht langsam arbeiten, das gelingt mir nicht, ich habe nicht die Geduld.» Er bevorzuge die «direkte, spontane Eingebung». So heisst es in seiner Autobiografie. Er suche eine «ursprüngliche Spontaneität» in seiner Kunst. «Es ist diese Lust, die mich treibt: jene Leidenschaft, die Spur meiner Gestik auf der Leinwand oder auf dem Papier zu hinterlassen.» (Hans Hartung: Selbstportrait. Berlin 1981)
Es gibt eine Kindheitserinnerung, die Hartung so wichtig war, dass er sie an den Anfang seiner Autobiografie gestellt hat. Als Kind habe er sich vor Gewittern gefürchtet. Eines Tages fasste sich der Sechsjährige ein Herz: «Mit einer einzigen energischen Bewegung entschied ich mich, riss meine Zimmertüre auf, rannte zum Fenster und stand dem Gewitter plötzlich unmittelbar gegenüber. Zitternd vor soviel eigenem Mut, öffnete ich sogar das Fenster. Das also war ein Gewitter – und es war schrecklich. Aber endlich hatte ich den Mut, mich ihm auszusetzen.» Die Blitze weckten in ihm den Impuls zu zeichnen: «In einem meiner Schulhefte fing ich die zuckenden Blitze im Fluge ein. Noch vor dem Donnerschlag mussten ihre Zickzacklinien auf dem Blatt sein. So beschwor ich den Blitz. Mir konnte nichts geschehen, wenn mein Strich so schnell wie der Blitz war.» (Hartung: Selbstportrait)

Dieses Beispiel frühen magischen Denkens ist eine psychologische Bewältigungsstrategie: Die Schnelligkeit des Zeichenaktes hat für Hartung eine Schutzfunktion. Hartung war davon überzeugt, dass seine Art zu malen auf diese frühe Erfahrung zurückgeht. Diese Erfahrung gab ihm, wie er in seinen Erinnerungen schreibt, das «Gefühl für die Schnelligkeit des Strichs, die Lust, mit Bleistift oder Pinsel den Augenblick einzufangen.» So erfuhr er die «Notwendigkeit der Spontaneität.» (Hartung: Selbstportrait)
Zurück zu den Arbeiten von Beatrice Dörig. Die unendliche Linie ist das gemeinsame Thema der vier grossen Tuschezeichnungen auf Pergaminpapier, «Die Unendlichen» (2019), und von «Infinity2» (2021), fünf Arbeiten, bei denen jeweils zwei Zeichnungen auf Transparentpapier so aufeinander liegen, dass das hintere Blatt durch das vordere hindurchscheint. Zu sehen sind Variationen des mathematischen Unendlichkeitssymbols, der liegenden Ziffer Acht, das durch ein breites, sich vielfach überkreuzendes Linienbündel geformt wird. Wenn man diese Figuren nebeneinander betrachtet, gewinnt man den Eindruck, als handele es sich um dieselbe Figur, die sich unaufhörlich und schwebend leicht durch einen imaginären Raum bewegt und deren unterschiedliche Positionen wie in Filmstills festgehalten wurden. Mit der Bewegung kommt die Zeitlichkeit ins Spiel. Die Darstellung von Zeiträumen ist ein weiteres Grundmotiv der Arbeiten von Beatrice Dörig.
Isaac Newton hat in einer zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Notiz einmal den Gedanken formuliert, dass wir uns eine unendliche räumliche Ausdehnung zwar nicht vorstellen, aber wenigstens begrifflich erfassen können. Was sich unserer Vorstellung entzieht, können wir strenggenommen auch nicht bildlich veranschaulichen. Beatrice Dörigs Bilder leisten dennoch eine Veranschaulichung, insofern die zahlreichen Versionen des Unendlichkeitszeichens eine unendliche Fortsetzung weiterer Varianten suggerieren.

Das Künstlerbuch «Infinity», das Beatrice Dörig 2022 im Verlag Jungle Books gestaltet und herausgegeben hat, präsentiert 100 solcher Linienzeichnungen des Unendlichkeitssymbols, und bestimmt gibt es noch weitere. Im Kunstfenster der Fachhochschule im Eingang zwischen den beiden Glastüren kann man die mit Tinte auf Transparentpapier gezeichneten Originale bewundern («Unendliche Linie», 2019–2021).
Die «Planets», 10 Bleistiftzeichnungen mit einem Kreismotiv vor dem Hintergrund eines weissen Rechtecks aus Ölkreide, sind 2024 entstanden. Sie gehören zu der umfangreichen Werkserie «Becoming Form – Ausgleichen». Diese Bezeichnung betont den Prozesscharakter der Arbeiten («Ausgleichen» statt «Ausgleich»). Im Gespräch hebt Beatrice Dörig hervor, dass es ihr grundsätzlich mehr auf den Prozess als auf das Resultat ankomme. Ihre Arbeiten verweisen demnach auf einen für den Betrachter unsichtbaren Aspekt, der für die Künstlerin gleichwohl im Zentrum steht.
Die «Planets» folgen einer geometrischen Konstruktionsanleitung, die zwar genau ist, aber dennoch viel Spielraum lässt. Zuerst zeichnet die Künstlerin einen Kreis mithilfe eines Lineals. Dabei verzichtet sie bewusst auf die Verwendung eines Zirkels. Danach wird ein kleinerer Kreis in den grösseren Kreis gesetzt, der nicht ganz geschlossen wird. Diesen offenen Kreis verfolgt die Künstlerin sodann spiralförmig nach innen zum Mittelpunkt sowie nach aussen bis zum Rand. Ausbuchtungen und andere Irregularitäten werden durch minimale Bewegungen des Ausgleichens «korrigiert». Die Kreise erscheinen manchmal kugelförmig, oft entsteht die Illusion von Räumlichkeit. Es ist das Zusammentreffen zwischen dem vollkommenen Kreis und der unvollkommenen Spirale, das die Ausgleichsbewegung in Gang setzt.
Für Beatrice Dörig hatte die Beschäftigung mit dem Kreis und der Linie ihren Ursprung in der Idee des Unendlichen. Tatsächlich ist der Kreis ein uraltes Sinnbild für Unendlichkeit und Vollkommenheit.
Von der allgemeinen Wortbedeutung her geht es beim Ausgleich darum, Unterschiedliches oder Gegensätzliches in eine Balance zu bringen. Der Begriff ist positiv konnotiert. Im Recht gibt es das Konzept der ausgleichenden Gerechtigkeit, und beim juristischen Verfahren des Täter-Opfer-Ausgleichs geht es um die Bereinigung eines Konflikts und um Wiedergutmachung. Beatrice Dörigs zeichnerische Handlung des Ausgleichens greift diese Symbolik auf. Das Bedürfnis nach Ausgleich kommt aus ihrer Beschäftigung mit den zahlreichen Konflikten und Problemlagen der Gegenwart. Die Linienzeichnungen haben trotz ihrer Abstraktheit eine gesellschaftspolitische Dimension. Diesen Aspekt hat die Künstlerin in früheren Arbeiten expliziter artikuliert, etwa in «Innerhalb meiner Zeit» (2011-–2012), einer Serie von Ölbildern auf der Grundlage von Fotos.
Bei den Linienzeichnungen findet die Auseinandersetzung mehr im Verborgenen statt, was einen hohen Grad an Intensität und Engagement keineswegs ausschliesst. Es ist eine verinnerlichte Auseinandersetzung, bei der die Wirkung nach innen (für die Künstlerin) und die Wirkung nach aussen (für die Betrachtenden) eng miteinander verflochten sind. Ich vermute, dass die Stille und die feine Ausstrahlung dieser Zeichnungen auch etwas mit dieser Intensität zu tun hat.

Die unablässige, für manchen Betrachter monoton wirkende Wiederholung derselben Motive, der Linien, Kreise und Unendlichkeitssymbole muss Erstaunen wecken, vielleicht auch Befremden. Eine Ausstellungsbesucherin hat die Künstlerin einmal gefragt: Wird einem nicht langweilig dabei? Nein, überhaupt nicht, war die Antwort. Aber woher kommt diese Beharrlichkeit, diese Hingabe? Was ist die Ursache für eine solche Faszination?
Man sucht sich nicht aus, was einen fasziniert. Das Faszinierende kommt vielmehr auf einen zu. Es ist deutlich, dass das Schaffen von Beatrice Dörig einer inneren Notwendigkeit, einem tiefen Bedürfnis entspringt. Damit betreten wir einen Bereich, der dem Blick von aussen verborgen ist und möglicherweise auch verborgen bleiben sollte. Ich will dennoch eine Deutung versuchen.
Bei der Vorstellung, wie Beatrice Dörig täglich ins Atelier geht und ihre Linienzeichnungen fortsetzt, musste ich an das stundenlange Meditieren der Zen-Praktizierenden denken. Mir kam auch das Üben der Musiker an ihrem Instrument in den Sinn. Und die Kreisbewegungen der Ausgleichs-Serien haben mich an jene religiösen Rituale erinnert, bei denen die Gläubigen ein Heiligtum oder eine heilige Stätte umkreisen. Die Muslime umrunden siebenmal die Kaaba, die heiligste Stätte des Islam. Im Hinduismus und Buddhismus gibt es die religiöse Praxis des Pradakshina, das rituelle Umschreiten eines Tempels, eines Kultbilds, eines Berges oder eines Stupa, eines buddhistischen Bauwerks, das Buddha und seine Lehre symbolisiert. Diese Rituale sind gebetsähnliche Formen der Verehrung und dienen zugleich der spirituellen Reinigung.
Ohne die künstlerische Tätigkeit von Beatrice Dörig mit solchen rituellen Formen gleichsetzen zu wollen, sehe ich hier gleichwohl eine Nähe. Dabei spielt es eine Rolle, dass die Arbeiten dieser Ausstellung allesamt unter dem grossen Thema der Unendlichkeit entstanden sind.
Die Unendlichkeit kann nicht nur mathematisch oder physikalisch aufgefasst werden, sondern sie ist auch eine traditionelle Chiffre für Gott. Die frühchristliche Theologie hat Gott das Attribut der Unendlichkeit zugesprochen. Unendlichkeit wird dabei zum einen als Zeichen der Vollkommenheit Gottes verstanden, zum anderen bedeutet sie, dass für den Menschen, der nur das Endliche erfassen kann, Gott unbegreiflich bleiben muss. Unendlichkeit und Unbegreiflichkeit gehören theologisch zusammen. Auch in der jüdischen Mystik, der Kabbala, wird das höchste Wesen als En-Sof angesprochen, was so viel heisst wie «das Unendliche».
Beatrice Dörigs Zeichnungen stellen das Unendliche nicht dar im Sinne einer Abbildung. Sie lassen sich vielmehr verstehen als Spuren unabschliessbarer Annäherungsversuche an das, was die Fassungskraft des Menschen übersteigt.
Zum Abschluss sei noch einmal Hans Hartung das Wort erteilt:
«Seit meiner frühen Jugend habe ich mich für die Astronomie und die physikalischen Zusammenhänge leidenschaftlich interessiert. Am meisten beeindruckt mich die Ähnlichkeit in der Abstufung zwischen dem Großen und dem Kleinen: dem Kosmos und unserer Galaxis, unserer Galaxis und der Erde, der Erde und dem Menschen, dem Menschen und dem Atom. Und schließlich beschäftigt mich unsere Unfähigkeit, die Endlosigkeit von Raum und Zeit zu verstehen.» (Hartung, Selbstportrait)