Neues im Kunstfenster des Fachhochschulzentrums

Vom 14. Juni bis zum 20. Dezember 2022 ist im Kunstfenster des Fachhochschulzentrums (Campus St.Gallen, Eingang) die Serie «Talking Shirts» von Birgit Widmer zu sehen. Ihr erstes Talking Shirt hat Birgit Widmer 2018 am Fair Fashion Day in Zürich bestickt, es zeigt den QR-Code eines Flugtickets.

Dass die Künstlerin für ihre Auseinandersetzung mit fairer Mode und Fast Fashion ein Second-Hand-Shirt aus der globalen Massenproduktion als Bildträger gewählt hat, ist konsequent und passt zu ihrer Arbeitsweise. Seit einem längeren Atelier-Aufenthalt in Finnland nutzt sie bevorzugt leicht transportierbare, gern auch ortsspezifische Materialien, die sie nicht an eine feste Produktionsstätte binden. Beispielsweise Fundholz, Papier, Stroh oder schwarzes Garn, das sie zu Fadenbildern spannt oder eben auf T-Shirts, Tücher und selbstgenähte Zelte stickt.

Manche Talking Shirts sind für Familienmitglieder oder Bekannte entstanden und für Ausstellungen wie in der Fachhochschule leihweise wieder im Besitz der Künstlerin. Zum Teil handelt es sich bei den Motiven um freundschaftliche Widmungen an die Träger:innen, etwa wenn auf einem T-Shirt verschiedene Gender-Pronomen durchdekliniert und ganz buchstäblich dekonstruiert werden. Die sprachlichen Aussagen und Statements stammen aus Büchern oder mitgehörten und selbstgeführten Unterhaltungen, es sind Fundstücke, die die Künstlerin nicht mehr losgelassen und sich quasi in ihre Arbeit – wie sie selbst formuliert hat – «eingeschrieben» haben.

In der Präsentation im Kunstfenster treten die Shirts nicht von vornherein in der Gruppe auf, sondern wechseln etwa im Zwei-Wochen-Turnus. Um die im Ausstellungstitel angekündigte «Conversation» verfolgen zu können, sind mehrere Besuche in der Fachhochschule nötig. Das Shirt mit dem QR-Code hat auch hier den Anfang gemacht und wirft vielfältige Fragen auf: nach den Produktionsbedingungen der Modeindustrie, die von billigen Arbeitskräften in Niedriglohnländern und günstigen Transporten um den Globus profitiert, aber auch nach den Bedingungen und Folgen unserer eigenen – oft sehr privilegierten – Mobilität (wiederum in Birgit Widmers Worten: «werden wir zu Waren, wenn wir auf Reisen sind?»).

Das Sticken im Kreuzstich, im jungen Bürgertum ein Zeitvertreib für besser gestellte Frauen und höhere Töchter, wird bei Birgit Widmer zum Mittel, das den Blick auch auf künstlerische Fragen nach Vergänglichkeit und Wandel lenkt. Die Talking Shirts lassen sich so auch als Weiterführung des Konversationsstücks lesen, einem Genre, das im 17. und 18. Jahrhundert besonders populär war und das gesellige Miteinander in privaten oder öffentlichen Settings, etwa in Salons oder Parks ins Bild setzte. Statt Personen und Positionen rücken die Shirts als Konversationsstück der Gegenwart die Vielstimmigkeit in den Vordergrund, die heute das Verbundensein und die Verortung über gesellschaftliche Schichten und Zeiten hinweg ermöglicht und manchmal auch erschwert.

Text: Patricia Holder (gekürzte und leicht überarbeitete Fassung der Ansprache zur Eröffnung)

Birgit Widmer, Talking Shirts (Conversation)

Talking Shirt 1: werden Waren wir (swisspass).

Birgit Widmer (*1964) lebt und arbeitet in Gais, Schweiz. In ihrer künstlerischen Praxis fertigt Birgit Widmer filigrane Zeichnungen und Skulpturen an, die sie als Szenen installiert. Die bildende Künstlerin beschäftigt sich mit den Fragen: Was ist ein Körper, warum ist er und was bedeutet er, was bedeutet es, dass er ist für wen und wo? Wo und in welchem Feld bewegen und verändern sowie beeinflussen sich Körper? Bewusst verwendet sie für ihre Arbeiten natürliche Materialien, wie Holz, Stroh, Kohle, Faden und in jüngster Zeit auch Wachs. Sie interessiert sich für leicht transportierbares Material, die Beweglichkeit der Materie sowie die Thematik Zustand, Zustände, die sich ändern oder auflösen.

2018 war Birgit Widmer Atelierstipendiatin des Amts für Kultur, Kanton St. Gallen in Rom, 2013 Atelier-stipendiatin des Amts für Kultur, Appenzell Ausserrhoden, 1992 erhielt sie den Förderpreis des Amts für Kultur Appenzell Ausserrhoden. Zurzeit in der Ausstellung R.A.W. or the Sirenes of Titan im Kunstmuseum Appenzell zu sehen: Judith Albert, Miriam Cahn, Valérie Favre, Asi Föcker, Agnès Geoffray, Roswitha Gobbo, Diana Michener, Martina Morger, Suzanne Treister, Birgit Widmer.

Website:

birgitwidmer.kleio.com

birgitwidmer.ch