Die Erker-Werke an der OST St.Gallen

Beim Bau des Fachhochschulzentrums reagierten der Kanton St.Gallen als Bauherr, die Architekten des Gebäudes und der Rektor der Fachhochschule St.Gallen sensibel auf die aktuellen Geschehnisse in St. Gallens Kunstwelt. Die traditionsreiche Erker-Galerie am Gallusplatz schloss zu dieser Zeit ihre Tore und suchte geeignete Orte, an denen die druckgrafischen Werke öffentlich zugänglich sind. Das Fachhochschulzentrum ist einer dieser Orte, der eine Auswahl von Erker-Werken beherbergen darf, die der Klassischen Moderne und des Informel zuzuschreiben sind.

So sind denn in vielen Räumen Druckgrafiken von zahlreichen europäischen Künstlern ausgestellt, die zwischen 1969 und 2011 in der Erker-Presse in St.Gallen entstanden sind. Offenbar herrschte in der von Franz Larese (1927–2000) und Jürg Janett (1927–2016) geführten Erker-Galerie mit angegliedertem Verlag und Druckwerkstatt eine Atmosphäre, in der sich die Künstler wohlfühlten und inspiriert arbeiten konnten. Einzigartig war, dass die Künstler selbst die Druckvorlagen anfertigten und nicht etwa Handwerker, die nach Entwürfen arbeiteten. Folglich handelt es sich bei den ausgestellten Werken um Originalgrafiken. 

Wechselausstellung

Die öffentlichen Korridorräume der Sockelgeschosse sind geprägt durch Sichtbetonwände und eine feine Rahmenbildung der reliefartigen Nischen, wo das Bild seinen zugewiesenen Platz bekommt oder in anderen Worten: die Kunst sich ihren Platz erobert. Hier sind wechselnd Druckgrafiken und bibliophile Bücher ausgestellt, die in der Erker-Presse in St.Gallen entstanden sind.

Aktuell sind im 1. Obergeschoss Werke dreier Erker-Künstler zu sehen. Anna-Eva Bergmans 1974 geschaffene Blätter sind Bestandteil des bibliophilen Werks L’or de vivre, das mit Texten des französischen Autors Jean Proal zusammenspielt. Diese Drucke entsprechen Bergmans Credo, dass ein Gemälde nicht von Konturen lebt, sondern dass es nur Übergänge von einer Farbe in eine andere Farbe und vom Licht in den Schatten braucht. Weiter ist das Mappenwerk Beltza (baskisch: «schwarz») des spanisch-baskischen Bildhauers und Zeichners Eduardo Chillida (1924–2002) ausgestellt. Die Druckserie ist eine Auseinandersetzung mit dem Raum, mit rechten Winkeln und labyrinthischen Elementen angetippt. Ergänzt werden die Werke mit einem Blumenstrauss farbiger Drucke des italienischen Malers und Grafikers Giuseppe Capogrossi (1900–1972). Er arbeitete mit einem Vokabular kamm- oder gabelförmiger Zeichen, die er ohne allegorische oder symbolische Bedeutungen in unterschiedlichen Variationen zusammensetzte oder verband.

Im 2. und 3. Obergeschoss ist eine Komposition von Druckgrafiken ausgestellt, die von Werken des italienischen Malers Piero Dorazio (1927–2005) ausgeht. Farben, Licht und Schatten sind in Dorazios Werk zentral. Er schrieb 1990 in seinem Text L’ombra ladra – Der diebische Schatten: «Seit ich zum ersten Mal die Augen öffnen musste, habe ich sie stets offengehalten. So habe ich von Kind an sehen gelernt, im Licht so gut wie im Schatten.» Ergänzend finden sich farbige Lithografien des französisch-rumänischen Dramatikers Eugène Ionesco (1909–1994), Lyrik der beiden Italiener Giuseppe Ungaretti (1888–1970) und Mario Luzi (1914–2005). Schliesslich die Hommage à Hans Arp, eine Suite von kleinen druckgrafischen Blättern unterschiedlicher Künstler der Nachkriegsmoderne.
 

Der Bilderzyklus Suite Erker des katalanischen Malers, Bildhauers und Grafikers Antoni Tàpies (1923–2012) besteht aus fünf grossformatigen Holzschnitten, die eine ganze Wand der Aula des Fachhochschulzentrums ausfüllen. Der Begriff «Suite» kommt aus der Musik und steht für einen Zyklus von Instrumental- oder Orchesterstücken. Eine Suite wird in einer bestimmten, vorgegebenen Abfolge gespielt, in der Regel ohne längere Pausen. In der Kunst wie in der Musik zeichnet sich ein Zyklus durch wiederkehrende Motive und Themen aus. 

Die Bilder sind bereits für eine flüchtige Wahrnehmung auffällig: durch ihre Monumentalität und durch das intensive Schwarz, das den Hintergrund der meisten Bilder bestimmt. Nimmt man sich die Zeit, etwas genauer hinzuschauen, dann entdeckt man Motive: eine Tür, ein Bett, ein bildfüllendes aufgeschlagenes Buch, ein grosses Kreuz und die Umrisse eines überdimensionalen Fusses. Die formlose, «unsaubere» Darstellungsweise versieht das Vertraute mit einem Fragezeichen und bringt ebenso wie der eigentümliche Gebrauch von Schrift und Ziffern ein Element der Verunsicherung ins Spiel. Entgegen ihrer gewöhnlichen Verwendung gebraucht Tàpies die Schriftzeichen nicht primär als Bedeutungsträger. Die Schrift wird zum Bild. Hier steht die gestische Qualität, die Spur der künstlerischen Tätigkeit gleichberechtigt neben der Bedeutung der Worte. 

Einer der Holzschnitte zeigt ein Bett, auf dem eine kauernde, halb auf dem Bett und halb unter dem Bett liegende menschliche Figur nur mit Mühe ausgemacht werden kann. Unter dem Bett ist ein ausgestreckter Arm zu sehen; es bleibt jedoch unklar, wie dieser Arm mit dem restlichen Körper zusammenhängt. Das Gewirr der Striche macht die Umrisse des menschlichen Körpers unkenntlich. Was stattdessen in den Vordergrund tritt, sind die Spuren der Arbeit des Künstlers am Material, der konkrete Prozess der handwerklichen Tätigkeit: Tàpies hat bei der Bearbeitung der Holzschnitte das Beil und die Motorsäge eingesetzt. Dass die Spuren der künstlerischen Tätigkeit derart ausgestellt werden, weist Tàpies als Vertreter des Informel aus, als dessen bedeutendster spanischer Vertreter er gilt. Rolf Wedewer hat das «Prinzip der Formlosigkeit» (franz.: informel) und das «Spannungsfeld von Formauflösung und Formwerdung» als typisches Merkmal der abstrakten Kunst der europäischen Nachkriegsjahre und des Informel beschrieben. 

 

Bei einem Rundgang um die Bibliothek im 4. Obergeschoss begegnet man drei unterschiedlichen Druckserien des deutschen Malers und Objektkünstlers Günther Uecker (*1930). Die erste Gruppe, fünf in Weiss gehaltene Prägedrucke, mutet still und fragil an. Bei näherer Betrachtung sieht man, dass der Druckstock auf rhythmisch streng angeordneten Nägeln basiert, allesamt in die gleiche Richtung ein- und umgeschlagen. Der Nagel ist das prägendste Motiv und Material im Gesamtwerk Günther Ueckers. Uecker wird deshalb vielerorts als Nagelkünstler bezeichnet, denn mit seinem stetigen Nageleinschlag hat er die triviale, alltägliche Handlung des Nageleinschlages zu einer «kunstwürdigen Handlung» (Dieter Honisch) und damit die aktive Produktion von Kunst sichtbar gemacht. Der Nagel ist aber nicht einfach als Motiv oder Metapher der Gewalt zu verstehen, sondern als Strukturelement. 

Die zweite Serie von Drucken, Holzschnitte mit dem Titel Baum, hat etwas sehr Grafisches, Geordnetes und fällt durch ihre geradezu wuchtige Strahlkraft auf. Im Holz sind dichte und sich wiederholende schräg nach unten verlaufende Kerben erkennbar. So wie der Nagel sowohl Material und Motiv ist als auch als Metapher für Gewalt verstanden werden kann, ist der Beilschlag sowohl ein physisches und gewalttätiges Ereignis, aus dem Uecker Druckplatten herstellt, als auch Metapher für die Auseinandersetzung mit Gewalt und Verletzung. Wiederkehrendes Thema in Günther Ueckers Werk ist die Verletzung: die Verletzung des Menschen durch den Menschen und die Verletzung der Natur durch den Menschen. 

Ueckers Werke im Fachhochschulzentrum wirken in ihrer Gesamtheit gleichzeitig wuchtig und feingliedrig, grob und fragil. Ebenso haben sie etwas Regelmässig-Ornamentales, was besonders in der letzten Serie der schwarz-weissen Lithografien Manuelle Strukturen ersichtlich ist.