Expertinnen aus eigener Erfahrung

Medienmitteilung vom 16. Juni 2022

Als erste Bildungsinstitution der Schweiz setzt die OST – Ostschweizer Fachhochschule zwei ehemalige Psychiatriepatientinnen als leitende Dozierende ein. In einem Zertifikatslehrgang sollen diese «Peers» den Studierenden Einblick geben in die Lebenswelt von psychisch kranken Menschen.

Ihr Leben nahm eine unerwartete Wende. Die ausgebildete Pflegefachperson Melina Wälle bekam bei der Arbeit Rückenprobleme. Sie wusste aber nicht, woran es lag. Auch die Ärzte konnten ihre Schmerzen nicht beheben. Zur Linderung gab’s Medikamente. Aber eben nur zur Linderung. Die Schmerzen blieben, und die Medikamente führten in die Abhängigkeit. Depressionen kamen hinzu. Und dann die Einweisung in die Psychiatrie. «Plötzlich war ich auf der anderen Seite, auf der Seite ohne Schlüssel», sagt Wälle, die bis zum Zusammenbruch als Pflegefachfrau in einer Psychiatrischen Klinik arbeitete. «Ich dachte immer, dass mir das nicht passieren kann.» Rückblickend zu ihrem Klinikaufenthalt hat sie gemischte Gefühle. In bester Erinnerung bliebt ihr aber ein Gespräch mit einem «Peer», einem ehemaligen Patienten, der heute in der Psychiatrie als Teil des interdisziplinären Pflegeteams arbeitet. «Ich fühlte mich von ihm wirklich verstanden», sagt Melina Wälle.

«Peers» kennen die Problematik aus eigener Erfahrung

Ähnlich ging es Helen Schneider, eine Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand, bis sie von einer Depression und einer chronischen Epilepsie in die Knie gezwungen wurde. Auch sie fühlte sich bei ihrem Klinikaufenthalt von einem «Peer» verstanden: «‹Peers› sind Experten, sie wissen, wie es sich anfühlt, wenn es einem nicht gut geht. Und sie wissen auch, dass man nicht immer Lust hat zum Basteln.» Gemeint sind damit die Aktivitäten im Klinikalltag. «Für viele Patientinnen und Patienten ist es einfacher, mit einem ‹Peer›, statt mit einem Profi zu reden, da ‹Peers› die Problematik aus eigener Erfahrung kennen und darum ein anderes Verständnis aufbringen», erklärt Schneider. Dies motivierte sie, vor acht Jahren die «Peer»-Weiterbildung zu absolvieren. Nach fünfjähriger «Peerarbeit» im Sanatorium Kilchberg habe sie sich nun entschieden, mehr im ambulanten Bereich tätig zu werden. Genau dieses Wissen will die OST – Ostschweizer Fachhochschule in der Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen im Gesundheitssystem einbeziehen.

Der Einsatz von «Peers» ist ein wichtiger Pfeiler der Recovery-Bewegung, die ihren Ursprung in den angelsächsischen Ländern hat. Recovery hat zum Ziel, die Autonomie der Betroffenen zu erhalten, ihre Ressourcen zu nutzen und die Selbstheilungskräfte zu stärken. Auch in der Schweiz werden «Peers» eingesetzt, seit 2015 beispielsweise in der Psychiatrie St.Gallen Nord auf der Akut- und Notfallpsychiatrie am Standort Wil oder in der Tagesklinik in Rorschach.

«Peers» auch im Unterricht

Die OST – Ostschweizer Fachhochschule geht nun einen Schritt weiter und holt als schweizweit erste Bildungsinstitution «Peers» als hauptverantwortliche Dozierende in den Unterricht, mit allen entsprechenden Kompetenzen und Aufgaben. «Im Klinikalltag sind ‹Peers› Brückenbauer zwischen Team, Betroffenen und Angehörigen. Mit unserem Zertifikatslehrgang wollen wir nun auch eine Brücke bauen zwischen Betroffenen und den Fachpersonen im Gesundheitssystem», sagt Manuel P. Stadtmann, Leiter des Kompetenzzentrums Psychische Gesundheit an der OST. Mit dabei sind Helen Schneider und Melina Wälle. «Ein Peer› macht Mut und ist das lebendige Beispiel dafür, dass man es aus einer Krise schaffen kann», sagt Melina Wälle, die sich bei Pro Mente Sana zum «Peer» weiterbilden liess. «Durch die Peer-Arbeit hat meine Krise einen Sinn bekommen.»

Kompetenzzentrum für Psychische Gesundheit

«In der Schweiz leidet jeder zweite Mensch im Laufe seines Lebens an einer psychischen Belastung, die sich auf emotionaler, kognitiver, körperlicher und interpersoneller Ebene auswirken kann», sagt Manuel P. Stadtmann. Dieses Zusammenspiel von Körper und Psyche wolle er mit seinem Team besser verstehen lernen, und somit die psychische Gesundheit der Gesellschaft zu erhalten und zu fördern: «Wir sehen die psychische Gesundheit als einen Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine eigenen Fähigkeiten erkennt, mit den regelmässigen Belastungen des Lebens zurechtkommt, produktiv arbeiten kann und einen Beitrag zu seiner Gemeinschaft leisten kann». Am Kompetenzzentrum Psychische Gesundheit der OST – Ostschweizer Fachhochschule wird beispielsweise untersucht, wie soziale, kulturelle, wirtschaftliche, politische oder ökologische Faktoren die psychische Gesundheit beeinflussen. Das Kompetenzzentrum Psychische Gesundheit könne dabei auf die Erfahrungen aus den Bereichen Pflegewissenschaft, Physiotherapie, Soziale Arbeit und Psychologie zurückgreifen, so Stadtmann. Und neu im Zertifikatslehrgang «Personenzentrierte psychische Gesundheit» auch auf das Wissen von «Peers».

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