Kindern eine Stimme geben

Medienmitteilung vom 14. Februar 2022

Die Hälfte aller vier- bis achtjährigen Kinder aus der Stadt St.Gallen wissen, dass es Kinderrechte gibt. Das zeigt eine Studie des Instituts für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR) der OST – Ostschweizer Fachhochschule. Die Untersuchung kommt weiter zum Schluss, dass sich die Mehrheit der Kinder im Umfeld von Familie, Kindergarten und Schule wohl fühlt. Die Ergebnisse weisen aber auch darauf hin, dass jedes vierte Kind in der Stadt St.Gallen schon physische und psychische Gewalt durch Erwachsene erlebte.

Wie nehmen Kinder ihre Umwelt wahr? 83 Mädchen und Knaben im Alter von vier bis acht Jahren wurden von Forschenden der OST – Ostschweizer Fachhochschule in Interviews befragt.

«Kinder sind ExpertInnen ihres Lebens. Sie nehmen die Welt, in der sie leben, nicht nur eigenständig wahr, sie bringen auch ihre individuellen Bedürfnisse und Herausforderungen in ihre soziale und räumliche Umwelt ein», sagt Mandy Falkenreck, Dozentin am Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR) des Departements Soziale Arbeit der OST – Ostschweizer Fachhochschule. «Kinder gestalten die Welt aktiv mit, sie haben eine eigene Stimme und verfügen über umfassende Rechte.» Wie es um diese Rechte steht, wollten Forschende des IFSAR von vier- bis achtjährigen Mädchen und Knaben aus der Stadt St.Gallen erfahren.

53 Prozent der Kinder wissen, dass es Kinderrechte gibt. «Institutionelle Settings scheinen bei der Vermittlung der Kinderrechte eine besondere Rolle zu spielen. 68 Prozent der Kinder geben an, dass sie in der Schule, dem Kindergarten oder der Krippe in Berührung mit den Kinderrechten gekommen sind, und 18 Prozent erwähnen, dass sie die Kinderrechte am ‹Kinderrechtefest› in St.Gallen kennengelernt hätten», fasst Tobias Kindler, Mitautor und wissenschaftlicher Mitarbeiter am IFSAR die Resultate zusammen.

Eltern sorgen für stabiles Wohlbefinden

Beim Recht auf Förderung und Wohlbefinden zeige sich insgesamt ein positives Bild. «Die Kinder geben mehrheitlich an, dass ihnen die Erwachsenen zuhören – sowohl in der Familie, in Schule, Kindergarten oder Krippe und in Freizeiteinrichtungen», erläutert IFSAR-Forscherin Mandy Falkenreck. Besonders interessant seien hier die Antworten der befragten Kinder auf die Frage, zu wem sie bei Problemen gehen können: «Am häufigsten werden mit 92 Prozent die Eltern genannt, gefolgt von Lehrpersonen mit 73 Prozent und Freundinnen und Freunde mit 63 Prozent», so Falkenreck. Im Vergleich mit der «Kinderrechte-Studie Schweiz und Liechtenstein 2021» zeige sich hier ein deutlicher Unterschied. Bei der Altersgruppe der neun bis 17-jährigen würden als Bezugspunkte vor allem Freundinnen, Freunde und Eltern genannt (je 71 Prozent). Auf Lehrpersonen werde dagegen nur von 16 Prozent der Befragten verwiesen.

Coole Orte zum Spielen

Die Forschenden des IFSAR interessierten sich auch dafür, wie die Kinder die Qualität ihres Wohnortes beschreiben. «87 Prozent der Kinder geben an, dass ihnen die Stadt St.Gallen gut bis sehr gut gefällt. Auch finden 89 Prozent der Kinder, dass es in St.Gallen coole Orte zum Spielen und Treffen mit Freundinnen und Freunde gibt», sagt IFSAR-Forscher Tobias Kindler. Dennoch erleben etwas mehr als die Hälfte der befragten Kinder, dass es auch Orte gibt, wo sie mit ihren Freundinnen und Freunde nicht gerne hingehen (51 Prozent), und sogar jedes dritte Kind äussert, dass es in St.Gallen Orte gebe, an denen Erwachsenen sagen, dass Kinder störten (39 Prozent).

Jedes Vierte Kind erlebt Gewalt

«Beim Recht auf Schutz und gewaltfreies Aufwachsen zeigt sich in den Ergebnissen ein eher gemischtes Bild», sagt Mandy Falkenreck. «Während Kinder sich insgesamt in Familie, Schule, Kindergarten oder Krippe sowie Freizeit und am Wohnort St.Gallen sicher fühlen, weisen die Ergebnisse auch darauf hin, dass nahezu jedes vierte Kind in der Stadt St.Gallen physische und psychische Gewalterfahrungen durch Erwachsene erlebt.» So geben 23 Prozent der Kinder in der Studie an, dass ihnen von den Eltern schon einmal «weh getan» wurde, 5 Prozent der Befragten erlebten dies durch Lehrpersonen und 54 Prozent durch Mitschülerinnen und Mitschülern. Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch die «Kinderrechte-Studie Schweiz und Liechtenstein 2021». Dort gaben die neun- bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen an, in der Familie zu 29 Prozent physische Gewalt zu erleben, von den Lehrpersonen 3 Prozent und von Mitschülerinnen und Mitschülern 32 Prozent. Zusammenfassend sagt IFSAR-Forscherin Mandy Falkenreck: «Damit wird deutlich, dass Gewalterfahrungen auch zum Alltagserleben vieler Kinder zwischen vier und acht Jahren dazugehören.»

Weniger Streit, mehr Mitbestimmung

Beim Recht auf Mitsprache und Beteiligung zeigt sich, dass die Kinder im Alter von vier bis acht Jahren in der Familie die meisten Mitspracherechte haben. Hier sind es 65 Prozent die angeben, dass sie selbst oder gemeinsam als Familie Entscheidungen treffen (beim Entscheid darüber, wer in das Zimmer der Kinder darf). Bei Entscheidungen bezogen auf die Stadt St.Gallen können dagegen nur 24 Prozent (mit-)entscheiden (beim Entscheid, wie Spielplätze aussehen) und in der Schule sogar nur 16 Prozent (beim Entscheid darüber, wie das Schulzimmer aussieht) bzw. 15 Prozent (beim Entscheid über die Klassenregeln). Diesbezüglich zeigt sich ein ähnliches Bild wie auch in der «Kinderrechte-Studie Schweiz und Liechtenstein 2021»: Auch dort ist es vor allem der Lebensort Schule, an dem die Kinder mehrheitlich nicht an Entscheidungsprozessen beteiligt werden.

Die Forschenden der OST – Ostschweizer Fachhochschule interessierten sich aber auch dafür, was die Kinder über die vorgegebenen Fragen hinaus bewegt. «Zum Ende der Befragung hatten die Kinder die Gelegenheit, auf die Frage zu antworten, was sich aus ihrer Sicht für Kinder verbessern sollte», sagt Tobias Kindler. «Hier ist es den vier- bis achtjährigen Mädchen und Knaben vor allem ein Anliegen, dass sich Kinder ‹weniger streiten› und ‹schlagen›, aber auch, dass Erwachsene und Mitschülerinnen und Mitschülern ‹netter werden›. Auch wünschen sie, dass Kinder ‹nicht ausgelacht› werden und ‹Erwachsene nicht über Kinder entscheiden›.» Ein Kind habe es bei der Befragung auf den Punkt gebracht, so IFSAR-Forscher Tobias Kindler: «Kinder sollten wie Könige sein.»

Novum in der Schweiz

Die Studie «Kinderrechte aus Kindersicht in der Stadt St.Gallen 2022» basiert auf den Fragen einer Kinderrechtestudie aus dem Sommer 2021, die vom IFSAR und UNICEF Schweiz und Liechtenstein mit neun- bis 17-jährigen Kindern und Jugendlichen durchgeführt wurde. Als schweizweit einzigartige Ergänzung wurden nun vom IFSAR vier- bis achtjährige Kinder aus der Stadt St.Gallen befragt. Mit diesen 83 Interviews kommen nun auch jüngere Kinder zu Wort, was schweizweit als Novum gilt.

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