Der disruptiven Umwelt mit vernetztem Denken entgegentreten

18.09.2019

Die Welt ist «vuka»: volatil, unsicher, komplex und ambivalent. Angesichts dessen stellt sich die Frage, welche Fähigkeiten heute oder in Zukunft notwendig sind, um gegenüber den Herausforderungen zu bestehen. In seinem Referat am Zyklusanlass des Gewerbe St.Gallen identifizierte Prof. Dr. Roland Waibel die Fähigkeit des vernetzten Denkens als eine dieser Fähigkeiten. Sie erlaube das Erkennen von Mustern und das Anwenden entsprechender Lösungsansätze.

Es darf wohl zu Recht vermutet werden, dass die Zukunft anders sein wird als die Gegenwart ist oder die Vergangenheit war. Für die aktuelle Situation wird zusätzlich attestiert, dass wir in einer «vuka»-Welt leben, die volatil, unsicher, komplex und ambivalent ist. Die Veränderungen und Bewegungen sind demnach signifikant: Es besteht eine Unsicherheit darüber, welche Lösungen in Zukunft noch Gültigkeit haben – einerseits wegen der Komplexität der Herausforderungen und andererseits auch aufgrund der Ambivalenz der Lösungsansätze. Im Kontext all dieser Attribute stellt sich die Frage, welche Fähigkeiten in Zukunft notwendig sein werden, um zu bestehen. Keine vollumfängliche, dafür eine direkt umsetzbare Antwort lieferte Prof. Dr. Roland Waibel, Leiter des Instituts für Unternehmensführung an der Fachhochschule St.Gallen (IFU-FHS) am Zyklusanlass vom 17. September 2019 an der Fachhochschule St.Gallen (FHS). Sein Fachreferat trug den Titel «Digitalisierung – Vernetztes Denken als Future Skill». Zwei Mal pro Jahr werden Gewerbetreibende aus St.Gallen an die FHS eingeladen, um Input für das eigene Schaffen und die eigene Weiterentwicklung zu erhalten. Diese Zyklusanlässe finden seit bereits zehn Jahren, das Referat von Roland Waibel war die 20. Ausgabe.

Kaum eine Branche ist vor Disruption geschützt

«Die Welt ist digital und disruptiv», führte Waibel ein. Mit Disruption ist das Zerreissen oder Sprengen einer Branche gemeint. Wie Kutscher oder Pferdehalter angesichts ihrer Erfahrung mit dem Automobil beanstanden werden, gab es das früher schon. Das Digitale jedoch erleichtert eine Disruption. Ein Markteinstieg oder eine Vergrösserung des eigenen Unternehmens war früher mit gleichermassen grösseren Kosten verbunden. Ein digitales Unternehmen allerdings kann viel einfacher ein grösseres oder ein neues Angebot bereitstellen, ohne dass sich die Kosten signifikant erhöhen. Die Digitalisierung ermöglichte auch neue Geschäftsmodelle, wie z.B. das «Mieten» von Musik. Spotify gilt hier als einer der bekanntesten Anbieter.

Unternehmen, die eine ganze Branche auf den Kopf stellen, gelingt es oftmals zuerst die eigene Denkweise zu verändern: «Unternehmer haben sich früher oft überlegt, was sie als Organisation anbieten. Digitale Unternehmen stellen jedoch den Nachfrager ins Zentrum und überlegen sich, wie sie die Bedürfnisse des Kunden erfüllen», sagt der FHS-Professor. Disruptiven Unternehmen gelinge es einfacher, günstiger und somit für viele erschwinglicher zu wirtschaften sodass man einige Fehler dank des bereits vorhandenen Nutzens verzeihe. Solche Lösungen würden oftmals anfangs unterschätzt, «weil die Lösung noch nicht richtig gut ist», sagt Waibel. Über eine durchaus längere Zeit werden die Lösungen jedoch immer besser und zum Schluss verlaufe die Entwicklung exponentiell. Die Sprengkraft Digitalisierung fasste Roland Waibel damit zusammen, dass er nur wenige Professionen kenne, die kein Automatisierungspotential aufweisen würden. «Spontan fällt mir gerade nur die Friseurbranche ein».

Zusammenhänge verstehen als wichtiger «Future skill»

Angesichts der unterdessen etablierten Erkenntnis des ständigen Durchrüttelns der Wirtschaft stellt sich die Frage, wie dieser vuka-Welt begegnet werden könne. Waibel listete zehn analoge Schlüsselqualifikation auf, die er einer Studie vom WEF entnommen hat: Lösen von komplexen Problemen, kritisches Denken, Kreativität, Führen von Menschen, Koordination mit anderen, emotionale Intelligenz, Urteils- und Entscheidungsvermögen, Dienstleistungsorientierung, Verhandlungsgeschick und kognitive Flexibilität. «Vieles hiervon sind soziale, kommunikative und personale Kompetenzen, doch andere kann man auch als die Fähigkeit des vernetzten Denkens zusammenfassen.»

Die Intention, das Grosse und Ganze zu überblicken, sei auch früher relevant gewesen, so Waibel. In Zukunft aber wird der Blick fürs Ganze im Gegensatz zur Detailanalyse bis in die letzte Verästelung stärker im Zentrum stehen.» Fachspezialisten brauche es immer noch, aber eine zentrale «Future skill» sei es, Zusammenhänge zu verstehen, um Lösungen für komplexe Situationen identifizieren zu können. Dem «cartesianischen Denken», also der Detailanalyse, der Gliederung und Unterteilung, gewinnt Waibel dennoch einen Nutzen ab. «Heute sprechen wir aber darüber, dass wir zusätzlich ein holistisches Denken benötigen, eines, welches die Zusammenhänge sieht und erkennt, wie eine Summe grösser wird als ihre Einzelteile».

Wettbewerb ist zivilisierte Eskalation

Ein Denken, das den Blick aufs Ganze wirft, Zusammenhänge, verschiedene Blickwinkel und Wirkungskreisläufe erkennt, könne auch als systemisches Denken bezeichnet werden. Bildlich wird damit aus dem linearen «Ich fülle ein Glas mit Wasser» ein systemisches «…und der Wasserpegel im Glas steuert meine Hand». Per Auge findet also eine Rückkoppelung statt von dem was im Glas passiert, was wiederum die eigentlich intendierte Handlung steuert. Einen solchen Kreislauf finde sich auch in der Betriebsökonomie, indem Innovationen zu einer höheren Differenzierung führen, dies eine höhere Nachfrage hervorruft, dadurch grösserer Umsatz sowie höhere Gewinne erzielt werden, was wiederum grössere Investitionen ermöglicht.

Solche Kreisläufe oder Wirkungszusammenhänge erscheinen in einem Muster und Waibel beanspruchte, dass mit wenigen solchen Mustern ein Grossteil der Herausforderungen beschrieben werden könne. «Gelingt es also per vernetztem Denken Muster frühzeitig zu erkennen, kann die Lösung ebenfalls frühzeitig angegangen werden.» Er konzentrierte sich in seinen Ausführungen auf das Muster der Eskalation, das in einem «wie du mir, so ich dir»-Kreislauf die Situation ständig verschlimmere. Waibel findet dieses Muster im Wettbewerb zwischen Unternehmen, z.B. im Kampf um die besten Mitarbeitenden, was zu Lohneskalationen führt oder sich auch im Preiskampf widerspiegelt.

Aus dem Teufelskreis aussteigen

Durchaus kritisch und potentiell irritierend für die Gewerbetreibenden im Publikum stellte Waibel die Frage: «Was ist besser als immer besser?» Oder anders formuliert, wie können Unternehmen aus diesem ständig die Gegebenheiten verschlechternden Wettbewerbskreislauf aussteigen? Als Lösungen diskutierte er zusammen mit dem Publikum die Innovation, eine starke Marke, Kooperationen oder ein digitales Geschäftsmodell, insbesondere, wenn dieses noch kein anderes Unternehmen anwendet. Für Unternehmen gehe es also darum, die Sinnlosigkeit der Eskalation zu erkennen und aus dem Teufelskreis auszusteigen. Oder wie Christoph Solenthaler, Inhaber und CEO der Solenthaler Recycling AG und Gast der Veranstaltung, bemerkte und Waibels Aussagen damit indirekt bestätigte: «Noch besser ist eine vorausschauende Lagebeurteilung, damit man gar nicht erst in die Eskalationsspirale einsteigt.»